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…Stille… (ab 5. März 2005)
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„… Und alles schwieg. Doch selbst in der Verschweigung
ging neuer Anfang, Wink und Wandlung vor. …“
(Rilke „Die Sonette an Orpheus – erster Teil Sonett 1“ (1923))
5. März 2005 Ich bin seit drei Tagen wieder hier am Chiemsee und komme
gerade von einem ausführlichen Spaziergang am See zurück. Und alles
ist so wunderbar still, man hört auf einmal wieder so viel, was man in
der Stadt nicht hört, obwohl man, wenn man dort ist, auch nicht das Gefühl
hat, alles sei so furchtbar laut. Man merkt es erst, wenn man da ist, wo es
wirklich still ist.
Als ich vor ungefähr fünf Jahren bei der Münchner Biennale für
neues Musiktheater eine Lear-Vertonung des Japaners Toshio Hosokawa hörte,
war ich eigentlich am meisten von seinem Grundansatz fasziniert, nämlich
der Idee, daß alles aus Stille entsteht und in Stille hinein verklingt,
und spätestens jetzt beginne ich, diesen Gedanken für mich zu entdecken.
Alle großen Prozesse vollziehen sich in Stille:
Die Schöpfung des Universums vollzog sich in absoluter Stille.
Das Mädchen wird in tiefer Stille zur Frau und empfängt das Leben
in tiefer Stille.
Und das Leben in ihrem Leib entwickelt sich unhörbar.
Stille ermöglicht erst die nötige Konzentration, die große
Prozesse benötigen, um überhaupt in Gang zu kommen.
Wunder passieren nicht im Lärm, sondern in Stille.
Was ist Stille? Das, was zwischen den Lauten liegt, das, was die Laute erst
zu solchen macht, in dem es sich gegen selbige abgrenzt. „Reden ist Silber,
Schweigen ist Gold“. „The rest is silence“. ( Hamlet V/2 310).
Wenn ich als Komponist am Abend nach Hause komme, aus der Stadt und ihrem Lärm,
wie soll ich dann in der Lage sein, mich unmittelbar an den Schreibtisch zu
setzen, um zu schreiben? Muss ich nicht als erstes einen tiefen Graben schaffen,
der mich von der Betriebsamkeit des Alltags trennt und schützt?
Mein Bild: Ein dunkler Raum, auf dem Tisch eine Lampe, die einen Lichtkegel
erzeugt, welcher sich gegen die Dunkelheit abgrenzt, die Dunkelheit „schützt
vor der Welt“ und intensiviert die Stille. Die Stille wird somit zur einsamen
Insel und gleichzeitig zum Universum, weil in ihr alles möglich ist. Sie
ist der Nährboden, auf dem sich das Kunstwerk entwickeln kann, und der
das Kunstwerk auf seinem Weg in die Welt beschützt. Die Kombination aus
Dunkelheit und Stille erzeugt eine besonders intensive Situation, die für
den Schaffensprozess möglichst ideale Voraussetzungen schaffen soll.
Stille als Ausgangs- und Endpunkt jedes akustischen Kunstwerkes. Und leider
fürchte ich, dass ich nicht übertreibe, wenn ich sage, daß selbst
wir Komponisten, die wir doch dafür prädestiniert sein sollten, die
Stille zu loben und zu ehren, sie zu wenig überhaupt wahrnehmen (können,
sind doch auch wir dem Lärm unserer Zeit unterworfen). Natürlich ist
es unendlich schwer, die Stille in unserer Zeit (nur in unserer Zeit?) aufzuspüren,
sie zu packen und nicht mehr loszulassen, aber leider ist es mir anscheinend
heute zumindest noch zu schwer, ihr auf die Schliche zu kommen.
Oder wahrscheinlich ist es nur deshalb so schwer, Stille zu erfahren, weil wir
uns nicht wirklich die Mühe machen, Stille zuzulassen.
Stille ist auch der Zustand, in dem wir uns überhaupt selbst erst wahrnehmen
können. Und wie selten lassen wir ihn zu… Wenn wir ein wenig freie
Zeit haben, treffen wir uns mit Freunden, um die Stille durch Reden zu töten,
um etwas zu machen, das uns vor dem Nichtstun bewahrt, weil das Nichtstun, das
Fünf-Minuten-Nachdenken-Können ist eine „große Sünde“
unserer Zeit, nicht wahr?
Und doch, wenn wir sie einmal zulassen, dann merken wir, wie unendlich viel
sie uns geben kann, und wie viel wir durch sie gewinnen und von ihr profitieren
können.
Und stellt sich uns in solchen Momenten nicht manchmal die Frage: Wieso gönnen
wir uns das eigentlich nicht öfter, tut es uns doch so gut?
Aber das Drama geht weiter, denn kaum beginnen wir, still zu werden, stören
wir uns daran oder lassen uns von anderen dabei stören.
Aber was nehmen wir wahr, wenn wir die „Verbotene“ zulassen?
Plötzlich sind wir in der Lage, die Geräusche der Natur wieder wahrzunehmen,
die wir schon verlieren, wenn wir uns ganz normal unterhalten, ohne dabei auch
nur im Geringsten laut zu werden.
Sind wir in der Lage, die Geräusche wahrzunehmen, die schon das „Geräusch“
unseres Stiftes auf dem Papier „zerstört“.
Und dann, wenn wir dies alles wahrzunehmen in der Lage sind, wird unsere Aufmerksamkeit
plötzlich geschärft, wie nie sonst, und wir nehmen so viel mehr wahr,
als im normalen Leben. Und dann werden wir uns erst der Tatsache bewusst, daß
wir im alltäglichen Leben gezwungen sind, so viel zu versäumen…
Es ist ein absoluter Moment des Glücks, den wir dann erleben dürfen,
und doch verlassen wir diesen Zustand notgedrungen wieder, und wenn wir zu ihm
zurückkehren wollen, müssen wir erneut unendlich dafür kämpfen.
Eigentlich müsste es unser aller Komponistentraum sein, einen Ort auf
der Welt zu wissen, der diese Stille zulässt und der für uns erreichbar
ist.
Stille. … Stille als Ausgangs- und Endpunkt eines jeden akustischen Ereignisses.
Am Anfang ist Stille. In die Stille hinein bauen wir Komponisten den Klang unserer
musikalischen Welt. Sie erwächst aus Stille und versinkt in Stille.
Es ist mir absolut unverständlich, wieso Celibidache mit seiner Weigerung,
seine Konzerte aufzunehmen, auf so viel Widerstand auch in der „Ernsthaften-Musik-Welt“
gestoßen ist. Sollten nicht wenigstens Kollegen eines Musikers sich ernsthaft
und unvoreingenommen mit einer „Eigenheit“ eines Mitstreiters auseinandersetzen?
Wenn ich so über meine Vorstellungen der Musik, die ich schreiben möchte,
nachdenke, so komme ich immer mehr zu der Überzeugung, daß diese
Musik ohne einen bewussten Umgang mit der Stille eigentlich nicht auskommen
kann.
Sollten wir nicht, anstatt unser Leben lang zu reden und zu diskutieren über
das, wie Musik sein oder nicht sein soll, nicht einfach einmal dahin gehen,
wo wir Schweigen und Hören üben? Gibt es eigentlich etwas, das für
uns Komponierende wichtiger sein kann?
Oben mein Bild, jetzt mein Traum (und wahrscheinlich nicht nur meiner):
Einmal in den Genuss zu kommen, nichts zu kennen und zu wissen, in den Genuss
kommen, daß ich ausprobieren muss, wie sich die Terz c-e anhört,
und dann die Frage stellen zu können: Wie hört sich dieser Klang an,
wenn ich statt e es spiele? Und dann die Erfahrung dieses „banalen“
Experiments als absolute Neuheit, die meinen musikalischen Horizont erweitert!
Und gleich im nächsten Satz meine Trauer und Bestürzung und Klage:
Auch wir Komponisten kommen diesem „Teufelskreis“ nicht aus, in
den uns das moderne Leben schickt, und in dem es uns „umkommen“
lässt.
Wann ist es eigentlich wirklich still?
Jetzt eben, wo ich alleine im Wohnzimmer sitze und diesen Text schreibe? Nein,
die Lüftung meines Computers ist laut, ich höre die Schritte meiner
Mutter im oberen Stockwerk, draußen ist es (ausnahmsweise?) still.
Schnee! Ich lobe den Schnee, denn er macht alles so still und auf der anderen
Seite macht er uns durch sein Knirschen unter unseren Schuhen die Stille auf
andere Art und Weise bewusst. Da ist ein relativ leises Geräusch, und wir
nehmen es wahr! Wann gibt es das schon mal?!
„Jenseits der Stille“
dieser wunderbare Film“!
[Dies nur eine kleine Erinnerung!]
Stille-Hören-Stille // Hören-Stille-Hören
Wer oder was ist sie, die Stille, diese alte unbekannte Bekannte, diese alte
bekannte Unbekannte?
Wo finden wir sie?
Überall und nirgends, und überall da, wo wir bereit sind, uns auf
sie einzulassen, und wo sind wir das?
Der Weg ist nicht weit, aber absolut unbekannt, und deshalb so schwer zu finden.
Keiner kommt wirklich auf die Idee, diesen Weg zu suchen, geschweige denn, ihn
zu gehen.
Stille ist da, wo sich unsere Sinne schärfen, wo unsere Sinne ein ungeahntes
Maß an Schärfe und Wachheit erfahren. Stille ist da, wo wir ungeahnte
Erfahrungen machen, die uns mit absoluter Glückseligkeit erfüllen
können.
Stille ist da, wo wir einen Großteil dessen, was uns tagtäglich beschäftigt,
hinter uns lassen können.
Stille ist da, wo sich Magie entfalten kann, und nur da entfaltet sie sich.
Stille ist der Ort der Prozesse.
Stille ist da, wo man endlich zu sich selbst finden kann in dieser lauten, gehetzten
Welt.
Stille ist da, wo sich überhaupt erst irgendetwas bewegen kann.
Stille ist das, was wir immer und immer wieder suchen müssen und was wir
uns immer und immer wieder erkämpfen müssen.
Stille ist das, was wir meist überhaupt nicht mehr kennen, weil die Welt
sich so gegen die Stille stellt!
Stille ist Einsamkeit! Und gleichzeitig ist Einsamkeit Stille!
Ja, ich will da hin gehen, in die Einsamkeit, an einen Ort, wo ich keine Ablenkung
mehr habe, wo ich endlich einmal zu mir kommen kann, ohne, daß ich durch
irgend etwas, und sei es von außen oder durch meine eigene Unruhe gestört
werde, bei dem Versuch, mich selbst endlich einmal zu erreichen! Und wenn ich
mich eines Tages erreichen sollte, wo lange ich dann an? Bei meiner elenden
Unruhe, die mir de letzten Nerv raubt, von der ich weg will, damit ich wenigstens
einen Moment der ungeteilten Aufmerksamkeit für irgendetwas erübrigen
kann!!!
Aber wie schwer ist der Weg da hin, wie unendlich schwer!!
Das ist wirklich unser aller Problem!
Wir sind so wenig in der Lage, einmal abzuschalten, einmal für irgendetwas
ganz da zu sein, und eigentlich wäre es doch gar nicht so schwer, denke
ich. Naja, vielleicht komme ich eines Tages dahin, daß ich wenigstens
beim Komponieren „ganz und gar dabei“ bin, oder wie immer das dann
auch sein mag.
Ein dunkler Raum – Stille – ein Lichtkegel in der Dunkelheit –
die Hoffnung, wenigstens so viel Konzentration aufzubringen, daß ich sagen
kann: Ich bin so gut da, wie es mir gerade in diesem Moment irgend möglich
ist. Aber sicher wird es ein langer Weg bis zu diesem Moment. Aber der Weg ist
das Ziel!
Stille, dieses Wort. Den Klang dieses Wortes versuchen, wahrzunehmen, ganz wahrzunehmen,
und dann aufzunehmen und zu verinnerlichen.
Schnee. Der Schnee macht still, dämpft die Geräusche ein wenig und
macht sie uns auf der anderen Seite durch sein Knirschen unter unseren Füssen
wiederum bewusster.
Der weite Blick auf den See, aufs Meer. Wasser und Himmel. Und dazwischen? „Nichts“,
eine hohe Luftsäule, ein hoher Dom, eine Kathedrale, und wieder die Stille,
aus der alles kommt und in die alles zurückgeht.
Stille, unser Lebenselixier.
Stille, der Traum unseres Lebens.
Stille, die Quelle, aus der wir unsere Kraft schöpfen.
Stille, die uns uns selbst bewusst macht.
Stille,…
…
…
…
Stille…
…
…
Wann überhaupt ist Stille da?
Je länger ich über die Stille nachdenke, desto klarer wird mir, daß
sie das Zentrum meines Komponierens werden muss, daß Komponieren für
mich eigentlich nur noch aus dem Bewusstsein, das der Klang aus Stille kommt
und in Stille hinein verklingt, geschehen kann.
Und daß dieser Ansatz für jedes Stück nur so funktionieren kann,
egal ob es „pp“ oder „ff“ beginnt, denn auch vor einem
Forteschlag, der ein Stück eröffnet, ist bekanntlich das Phänomen
„Stille“ zu beobachten. Eigentlich schade, daß dieses Phänomen,
obwohl es omnipräsent ist, so wenig wahrgenommen wird.
Weil wie können wir als Komponisten überhaupt arbeiten, wenn wir die
Stille nicht in unser Denken mit einbeziehen, und zwar denke ich, daß
es nicht ausreicht, der Stille einen Platz am Rande unseres Denkens einzuräumen,
nein, wir müssen der Stille schon einen ziemlich zentralen Platz einräumen,
denke ich, ist sie doch das, woraus unsere Kunst kommt und wohin sie entschwindet…
Alles dreht sich um dies eine Phänomen…
…Stille…
Ein einzelner Ton. - Er kommt aus der Stille. – Er verklingt in die Stille.
– Ein einzelner Ton.
Und dann? – Ein neuer Ton. – Und nun? – Stille, wieder; und
ein Ton, der wieder verklingt.
Ist das nicht der Rhythmus unseres ganzen Daseins? Bauen wir nicht immer wieder,
wann immer wir einen Ton niederschreiben, eine solche Konstruktion?
Und selbst, wenn wir tausend Töne in schneller Abfolge hintereinander
aufschreiben, so ist vor dem ersten und nach dem letzten- Stille. Und es ist
das elende Gesetz der Natur, das es gar nichts anderes sein kann als das.
Stille, aus der ein einzelner Ton entsteht.
Stille, aus der ein einzelner Klang entsteht.
Stille, aus der eine Phrase entsteht.
Stille, aus der unsere gesamte Kunst entsteht.
Stille, der keiner unserer Zunft entkommen kann.
Stille, die auf unsere Kunst folgt.
Stille, auf die unsere Kunst folgt.
Ich gehe ins Reisebüro, um eine Reise zu buchen, und ich sage der Dame
am Schreibtisch:
„Ich möchte bitte eine Reise in die Stille buchen.“ Und was
wird sie mir antworten? Wahrscheinlich fragt sie: „Schön, und wo
wollen Sie hinfahren? In welches Land und an welchen Ort?“ Dann muss ich
sagen: „An den Ort der Welt, wo die größtmögliche Stille
anzutreffen ist.“ Sie: “Gut. Und wo soll das sein?“ An diesem
Punkt bricht unser Gespräch ab, weil es ganz einfach nicht möglich
ist, zu sagen: Das ist der Ort. Der Ort ist der Ort, den ich persönlich
für mich gewählt habe. Und wenn ich die Wahl zwischen Moskau, Tokio
oder Kairo und beispielsweise einem kleinen Dorf in Lappland habe, wird mir
jeder, den ich um Rat frage, zu Lappland raten, aber wer sagt mir wirklich,
daß es dort stiller ist, als in einer der genannten Großstädte?
Der Ort, wo Stille ist, ist überall da, wo ich die Stille zulasse, mich
auf die Stille einlasse. Stille ist da, wo ich sie mir erzeuge. Und wenn ich
in der Lage bin, meine Stille im größten Lärm der Welt zu erzeugen,
an Orten wie einem orientalischen Bazar, dann ist mein stiller Ort im Bazar,
und ich schreibe mein Stück fünf Meter neben einem schreienden Händler.
Aber woher wissen wir eigentlich, wie und wo und warum wir das machen, was wir
machen?
Ich glaube nicht daran, daß es eine erklärbare Begründung für
unser Tun geben kann, weil müssen wir, wenn wir das Tun, welches unsere
Kunst schafft, so tun wollen, daß dabei etwas herauskommt, mit dem wir
zufrieden sein können, nicht so in der Sache gefangen sein, daß es
keine Begründung mehr für dieses Tun geben kann/soll?
Wahrscheinlich ist es deshalb auch ein so langer Prozess, bis man überhaupt
sie Themen findet, über die zu schreiben interessant sein könnte.
Oder anders gesagt: Ich für meinen Teil habe einfach eine Zeit gebraucht,
bis ich mir überhaupt darüber klar geworden bin, wörüber
ich überhaupt schreiben will.
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