|
KUNST UND WISSEN
Vier Positionen
EINLEITUNG
In allen im Folgenden vorgestellten Positionen geht des um die Verbindung von
Kunst und Wissen. Grundlage für dieses Heft bilden ein Vortrag von Joachim
Lenger, ein Interview mit Sarat Maharaj, ein Zitat von Paul Klee sowie meine
eigenen Erfahrungen als Naturwissenschaftlerin und Künstlerin. Die Autoren
setzen verschiedene Schwerpunkte. Bei Lenger geht es hauptsächlich um die
strukturellen Ähnlichkeiten von Kunst und Wissen, für Maharaj steht
Kunst als Wissensproduzent im Mittelpunkt des Interesses, Klee geht es um Kunst
zur Wissensvermittlung. Ich gebe Beispiele für eigene künstlerische
Arbeiten, die sich thematisch mit den paradigmatischen Setzungen von Kunst und
wissenschaftlicher Forschung auseinandersetzten.
INHALT
- Vortrag von Lenger: „Kunst, Wissen: Forschung“
- Kunst und Forschung in meinen Arbeiten
- Interview mit Maharaj: „Kunst ist eine Form von Wissen“
- Klee: Die Wurzeln der Dinge
- Zusammenfassung der Positionen
- Zum Schluss: Durch Kunst lernen
VORTRAG VON LENGER: KUNST, WISSEN: FORSCHUNG
Joachim Lenger ist Professor für Philosophie und Medientheorie an der
Hochschule für bildende Künste Hamburg (HfbK) und an der Universität
Basel. Den Vortrag mit dem Titel „Kunst, Wissen: Forschung“ hat
er 2001 bei einem Doktoranden-Kolloquiums gehalten (Lenger 2002). Anlass für
den Vortrag sind die Strukturreformen der Hamburger Universitäten und die
Notwendigkeit der HfbK, sich den Reformen zu stellen. In dem Versuch, die eigene
Art des Lernens und der Lehre aufrecht zu erhalten, ist die HfbK gezwungen,
sich von andern Universitäten abzugrenzen und sich selbst zu definieren.
Durch diese von außen aufgezwungene Notwendigkeit findet eine Festschreibung
von Begriffen statt, die Lenger in seinem Vortrag aufzeigt und kritisiert.
Sein Vortrag nähert sich dem Begriff „Wissen“ aus der Perspektive
von Wissenschaft und Wissenschaftstheorie. Verbindungen von Kunst und Wissen
werden aufgezeigt. Es geht hauptsächlich um die strukturelle Verbundenheit
von Kunst und Wissen, weniger darum, was man durch Kunst weiß oder lernen
kann.
Grundlage von Lengers Vortrag ist der Begriff des „Paradigmas“.
Lenger verwendet den Begriff, ohne ihn zu definieren. Da er für das Verständnis
des Vortrags von Bedeutung ist, trage ich hier zunächst einige Definitionsvorschläge
zusammen, bevor ich weiter auf den Vortrag eingehe. Laut Duden (1982) handelt
es sich beim Paradigma als Grundbedeutung um ein „Beispiel, Muster; Erzählung,
Geschichte mit beispielhaftem, modellhaftem Charakter.“ Eine für
den Vortrag passende Definition könnte eine im Duden genannte Nebenbedeutung
sein: „Denkmuster, dass das wissenschaftliche Weltbild bzw. die Weltsicht
einer Zeit prägt.“ Innerhalb eines bestimmten wissenschaftlichen
Systems beschreibt das Paradigma die Begrifflichkeit, die in diesem System stimmig
zu einander passt und damit „Realität“ charakterisiert. Da
Lenger den Begriff außerdem allgemeiner verwendet, könnte man ihn
auch als „(übergeordneten) Erklärungsansatz bzw. Modell“
umschreiben.
Im Folgenden fasse ich die Kernaussagen des Vortrags von Joachim Lenger zusammen:
Das wissenschaftliche Paradigma
Das wissenschaftliche Paradigma ist produktiv, kritisch und instabil.
Es ist produktiv, indem es ein Gegenstandsfeld erzeugt, das durch eine Vielzahl
von begrifflichen, theoretischen, instrumentellen und methodologischen Verpflichtungen
beschrieben wird. Diese wissenschaftlichen Regeln bleiben im Paradigma und präzisieren
und verschärfen es. Sie werfen die zu behandelnden Fragen auf und erlauben
es dem Forscher, sich auf einzelne wissenschaftliche Probleme zu konzentrieren,
die nur dem Spezialisten zugänglich sind.
Die kritische Funktion des Paradigmas besteht in einer Bewegung des Scheidens
und Unterscheidens bei der wissenschaftlichen Arbeit. Durch die Paradigmata
werden Gegenstandsfelder und wissenschaftliche Felder von einander getrennt.
Die Produktivität vollzieht sich im Rahmen der Kritik, wobei die Kritik
kein Umstoßen von Grenzziehungen bedeutet, sondern eine Sicherung und
Verdeutlichung von Grenzen zur Folge hat.
Im Gang der Forschung setzt sich das Paradigma der Möglichkeit seines Selbstverlustes
aus und ist damit instabil. Durch die Forschung können Anomalien auftreten,
die das Paradigma in Frage stellen und die Anordnung im Ganzen in Frage stellen.
Dies führt zu einer Krise, die das Innen und Außen des Paradigmas
erschüttert und von Kuhn als „Struktur der wissenschaftlichen Revolution“
bezeichnet wird. Diese Revolution ist durch Unübersichtlichkeit, Konfusion
und Machtkämpfe gekennzeichnet.
Außerdem sind die Paradigmata instabil, weil sie sich auf eine Vielheit
von medialen und metaphorischen Übertragungsbeziehungen stützen. Damit
wird vor allem das Benutzen von Sprache und Schrift bezeichnet, die in der Regel
keinen unmittelbaren Bezug zum Forschungsgegenstand haben. Als Folge kann sich
die Wissenschaft nicht auf einen in sich geschlossenen Kern beziehen. Allerdings
geht die normale Forschung stillschweigend von diesem Kern aus und ist deshalb
kumulativ und akkumulativ. Sie häuft Wissen an, um von gesicherten Erkenntnissen
zu neuen Erkenntnissen zu kommen und weiteres Wissen anzuhäufen. Dabei
übersieht sie ihren „blinden Fleck“, der Ausgangspunkt für
die Zerstörung der eigenen Paradigmata ist.
Kunst
Die paradigmatischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts haben die Kunst in ein
fragiles Feld offener Forschung versetzt. Sie stützt sich nicht mehr auf
tradierte Techniken wie Malerei, Plastik usw., die nur von Spezialisten ausgeführt
werden können.
Die Praxis künstlerischer Forschung ist durch unterschiedliche Schreibweisen,
wissenschaftliche Techniken und künstlerische Technologien geprägt,
die immer wieder versuchen die alten Paradigmata zu zerstören und die künstlerische
Frage im zerbrochenen Horizont ihrer eigenen Paradigmatik zu wiederholen. Die
künstlerische Praxis koppelt dabei den Kunstprozess in experimenteller
Weise an die aktuellen Kommunikations- und Informationstechnologien an.
Kunst ist ein Mediendispositiv, in dem sie auf einen sich wandelnden Rahmen
von Medien und Paradigmata zugreift.
Die Künste werden dazu gedrängt, ihre Eignart durch die Begriffe
des Genies, des Schöpferischen, des Freien und Ungebundenen zu fixieren,
wenn sie versuchen, sich von anderen Bereichen abzugrenzen. Sowohl die HfbK,
indem sie sich auf den Begriff des „Genies“ bezieht, als auch die
Kunsttheorie, die die Medientheorie als eigenen Bereich ausgliedert, halten
an diesen veralteten Paradigmata fest. Sie schneiden sich damit von der Kunstpraxis
ab. Der Kunstbegriff zieht sich in seinen eigenen Mythos zurück. Durch
diesen Rückzug verlässt die Kunst die Forschungsperspektive.
Für die Entwicklung der Kunst hat die Einführung der Zentralperspektive
(um 1500) einen paradigmatisch wichtigen Einschnitt dargestellt. Durch die Zentralperspektive
wurden Bildräume geöffnet, die Körpern Raum gaben, sich plastisch
zu entfalten. Aber der zentralperspektivische Raum hat nicht zu einer stabilen
paradigmatischen Ordnung geführt. Er stellt bald nach seiner Öffnung
ein künstlerisches Problem dar. Durch das Licht wurden die Körper
und später der Raum aufgelöst.
Zusammenhänge zwischen Kunst und wissenschaftlicher Forschung
Kunst und Wissenschaft besitzen eine Strukturanalogie, sind aber nicht identisch.
In beiden Fällen werden durch Setzungen und Experimente die jeweiligen
Paradigmata aufs Spiel gesetzt. Die Kunstgeschichte beschreibt das Werden eines
Wissens, das unablässig paradigmatische Revolutionen durchläuft.
Außerdem sind Kunst und Wissenschaft durch asymmetrische Zusammenhänge
miteinander verbunden. Zum einen definiert sich die Wissenschaft durch den Ausschluss
der Kunst. Zum anderen wird die Kunst herangezogen, wenn die Wissenschaften
nicht weiterkommen. Dann wird der Wissenschaftler zum Künstler. Kuhn, den
Lenger zitiert, schreibt: „Wie Künstler müssen auch schöpferische
Wissenschaftler gelegentlich in der Lage sein, in einer aus den Fugen geratenen
Welt zu leben.“
Im Zuge der Vorherrschaft eines bestimmten Wissenschaftsbegriffs wird die Kunst
dazu gezwungen, sich zu definieren und zu fixieren. Dies widerspricht der eigentlichen
Struktur der Kunst substanziell.
Medienverbünde
Als Medienverbundschaltungen wird der enge Zusammenhang von Medien bezeichnet.
Das eine Medium kommt erst durch die Existenz des anderen zustande. Lenger führt
in seinem Vortrag als Beispiel die Verbindung von Buchdruck, Zentralperspektive
und der Camera Obscura in der Renaissance (um 1500) an. Durch die Erfindung
des Buchdrucks konnten die detaillierte Zeichnungen und Anleitungen zur Zentralperspektive
und zur Camera Obscura vervielfältigt und verbreitet werden. Erst der Druck
ermöglichte eine ausreichende Präzision für technische Zeichnungen,
da so das mediale Rauschen, das durch die Handkopie zustande kommt, abgestellt
wurde. Gleichzeitig entwickelt sich die Mathematik weiter, die Voraussetzung
für die Berechnung von optischen Geräten ist. Durch die Verbreitung
der linearperspektivischen Geometrie und durch die Camera obscura wurden die
Zeichnungen präziser.
Das hegemoniale Dispositiv und seine Auflösung
Bestimmte Wissensanordnungen, die Teil eines Medienverbundes sind, bekommen
hegemoniale Macht über die anderen. Damit stellt sich die Frage, ob die
Wahrheit von einem Medium in einem anderen gesagt werden kann. Das Buch war
über mehrere Jahrhunderte das privilegierte Medium von Wahrheit, Wissen
und Forschung. Durch eine strenge Ordnung der Textualität wurde das Buch
von den anderen Medien losgelöst und verabsolutiert. So wurde es dazu verwendet,
außer seiner eigenen, auch die Wahrheit anderer Medien zu sagen. Um dies
leisten zu können, sind Übersetzungstechniken notwendig, die zu einer
Ent-Grenzung und damit zu einer Subversion der eigenen Paradigmatik führen.
Jeder Versuch die „Wahrheit“ in einem spezifischem Aufschreibesystem
zu monopolisieren, ist deswegen zum Scheitern verurteilt. An die Stelle der
Frage nach der „Wahrheit “ treten solche des Transfers, der Übersetzbarkeit
und der intermedialen Relationen, die sich in Differenzen, vielfältigen
Zusammenhängen und Sprachspielen von in sich gebrochenen und differenziellen
Strukturen ausdrücken.
Bis hierher habe ich den Vortrag von Lenger, soweit er zum Thema Kunst und
Wissen von Interesse ist, in einer Zusammenfassung dargestellt.
Beispiele und Interpretationen von Lengers Position
Wie schon in der Einleitung zum Vortrag geschrieben, geht es Lenger um Wissen
aus der Perspektive von Wissenschaft und Wissenschaftstheorie. Damit nähert
er sich dem Wissensbegriff anders, als das aus Sicht der Pädagogik, die
sich auf die Wissensbildung und -vermittlung konzentriert, der Fall ist. Es
geht ihm hauptsächlich um die strukturelle Verbundenheit von Kunst und
Wissen, bzw. wissenschaftlicher und künstlerischer Forschung. Es geht weniger
darum, was man durch Kunst weiß oder lernen kann oder wie man Kunst vermitteln
kann. Seine Ansätze sind zum Teil sehr abstrakt. Um ihn greifbarer zu machen,
versuche ich ihn mit meinen eigenen Beispielen und Erfahrungen zu füllen.
Da ich selbst eine Naturwissenschaft studiert habe und in diesem Rahmen wissenschaftlich
gearbeitet habe, bietet es sich an, auf diese Erfahrungen zurückzugreifen,
um Lengers Position zum wissenschaftlichen Paradigma zu veranschaulichen. Jede
Diplom- oder Doktorarbeit in einem wissenschaftlichen Fach ist ein Beispiel
für die Produktivität von wissenschaftlichen Paradigmata. Der Inhalt
der wissenschaftlichen Arbeit ist sehr stark eingegrenzt und wird mit den im
Studium erlernten Methoden bearbeitet. Es gibt ein Kontingent von Fachbegriffen
und Methoden, auf das zur Beschreibung zurückgegriffen wird. Diese Fachbegriffe
sind so stark bereichsspezifisch, dass sie selbst für Wissenschaftler,
die im gleichen Fach arbeiten, sich aber in einem anderen Bereich spezialisiert
haben, unverständlich sein können.
Als Abschluss für mein Holzwirtschaftsstudium habe ich eine wissenschaftliche
Arbeit über „Qualität und Beurteilungskriterien von Oberflächen
beschichteter OSB-Platten“ geschrieben. Darin werden Begrifflichkeiten
und Methoden verwendet, die für Fachfremde nicht verständlich sind.
Als Spiel habe ich bei meiner Diplomabschlussfeier Freunden einen Zettel mit
Fachbegriffen gegeben, die in meiner Diplomarbeit vorkamen und sie gebeten aufzuschreiben,
was sich hinter dem Begriff verbergen könnte. Die Ergebnisse waren lustig,
hatten aber nichts mit den wissenschaftlichen Inhalten zu tun. Die Fragstellung
meiner Diplomarbeit ergab sich aus dem damals aktuellen Forschungsbedarf in
der Holzphysik. Durch die Hauptfragestellung der Diplomarbeit ergaben sich die
zu bearbeitenden Teilfragen, zum Beispiel nach der Wahl der Messmethoden oder
der verwendeten mathematischen Verfahren. Das Messgerät hat einen starken
Einfluss auf die Messergebnisse. Für meine Diplomarbeit stand ein Gerät
zur Verfügung, das die Oberfläche mit einem Laser abgetastet. Da das
Gerät ursprünglich für Metalloberflächen konzipiert worden
war, hat es auf den stärker strukturierten Holzwerkstoffoberflächen
keine optimalen Ergebnisse geliefert. Für die Fragestellung „Qualität
und Beurteilungskriterien von Oberflächen beschichteter OSB-Platten“
hätte eigentlich ein neues Messgerät entwickelt werden müssen.
Aber das hätte den Rahmen einer Diplomarbeit gesprengt.
Die wissenschaftliche Arbeit bewegt sich im durch Forschungseinrichtungen und
Universitäten vorgegebenen Rahmen, aber nicht über diesen hinaus.
Werden andere Methoden oder Vorgehensweisen als die üblichen verwendet,
so grenzen die etablierten Wissenschaften diese in der Regel als unwissenschaftlich
aus. Die wissenschaftliche Kritik findet vor allem in Fachzeitungen und auf
Konferenzen statt. Hier werden Forschungsergebnisse vorgestellt und kritisch
hinterfragt. Die Methodik der Forschung wird dabei nicht grundsätzlich
hinterfragt.
Es gibt jedoch auch eine Instabilität von Paradigmata, wie Lenger in seinem
Vortrag gezeigt hat. Als Beispiel führt er die „kopernikanische Revolution“
(Kopernikus 1507) und die Erfindung des Buchdrucks (Gutenberg 1457) an. Beide
haben zu einer fundamentalen Veränderung der Weltsicht geführt und
die Bedingungen für die Forschung grundsätzlich verändert. Die
letzte große paradigmatische Veränderung für die Forschung stellt
die Einführung der Computertechnik dar. Mit ihr wurden Arbeitsweisen möglich,
die zu Forschungsergebnissen führen, die ohne diese Technik nicht erreichbar
wären. Wissenschaftliche Forschung ohne Computer ist heute nicht mehr möglich.
Zwar ist die Computertechnik noch immer dabei, sich schnell weiter zu entwickeln,
und diese Entwicklung wird als Folge neue Forschungsergebnisse mit sich führen,
aber daran, dass Forschung ohne Computer nicht mehr möglich ist, wird sich
nichts mehr ändern. Man kann also sagen, dass diese paradigmatische Revolution
bereits abgeschlossen ist.
Es ist Teil der wissenschaftlichen Forschung, dass Erkenntnisse in schriftlicher
Form festgehalten werden. Der Forschungsgegenstand hat in den meisten Fällen
zunächst keinen Bezug zur Sprache oder Schrift. Durch die Darstellung von
Forschungsergebnissen als Text findet eine mediale Übertragungsbeziehung
statt. Die Forschung greift auf Metaphern zurück, um sich selbst zu beschreiben.
Galilei (1564-1642) sagte, Naturwissenschaft zu treiben hieße im „Buch
der Natur“ zu lesen. Kuhn (1976) schreibt, dass die Wissenschaft in Beziehung
zum „Rätsellösen“ gesetzt wird. Hier finden metaphorische
Übertragungsbeziehungen statt.
Wie die Wissenschaft durchläuft auch die Kunst eine Abfolge von paradigmatischen
Revolutionen. Beispiele hierfür sind die Abkehr von der Gegenständlichkeit
in der Malerei oder der unbearbeitete, triviale Gegenstand als Kunstwerk. Auch
einzelne Künstler können beispielhaft für eine Abfolge paradigmatischer
Revolutionen im 20. Jahrhundert stehen, wenn sie durch ihre Arbeiten ein jeweils
neues künstlerisches Forschungsfeld erschlossen haben, indem sie in Bereiche
vorgedrungen sind, die vorher nicht künstlerisch bearbeitet wurden. Beispiele
für solche Künstler könnten sein: Joseph Beuys, der eine eigene
Philosophie entwickelt hat, nach der jeder Mensch ist ein Künstler ist,
Andy Warhol, der als erster Massenmedien und Starkult als Kunstthema erschlossen
hat, oder Rosemarie Trockel, die den Bereich weibliche Häuslichkeit und
nichtöffentliche Konventionen als Kunstthema geöffnet hat.
Lenger thematisiert in seinem Vortrag veraltete Paradigmata an der HfbK. Als
Studierende bin ich diesen Paradigmata ausgesetzt. Die Struktur an der HfbK
ist so offen, dass es möglich ist, die Paradigmata der HfbK, zum Beispiel
die Organisation des Kunststudiengangs in Klassen, während des Studiums
zu umgehen. Aber spätestens wenn Studierende Prüfungen ablegen wollen,
müssen sie sich in die Strukturen der HfbK einordnen. Die in Lengers Vortrag
beschriebene Festschreibung des Geniebegriffs gibt es nach meiner Wahrnehmung
tatsächlich in der Studienrealität. Es gibt ein eindeutiges „Drinnen“
und „Draußen“ in den Klassen. Kunst-Klassen sind normalerweise
sehr zentralistisch um den Professor aufgebaut. Studierende, die sich im inneren
Kreis der Klasse befinden, genießen bestimmte Privilegien, wie die besten
Plätze bei Jahresausstellungen und ähnliches.
Es gibt ungeschriebene Gesetze an der HfbK, die nicht nur in meiner, sondern
auch in der Wahrnehmung von Kommilitonen bestehen. Zum Beispiel darf man im
Fachbereich Kunst nicht erzählen, dass man im Gestaltungsbereich Geld verdient.
Kunsthandwerk ist unerlaubt. Christlichsein ist nicht erlaubt, während
die Beschäftigung mit asiatische Religionen wie Zen-Buddhismus in Ordnung
ist. Grade eine solche Differenzierung ist bei näherer Betrachtung völlig
unhaltbar. Interessant finde ich, dass christliche Gedanken und überhaupt
Religion der HfMT (Hochschule für Musik und Theater Hamburg) anders bewertet
werden als an der HfbK. Ich habe in der HfMT ein Konzert für Ensemble mit
zeitgenössischer Musik für klassische Instrumente und Live-Elektronik
erlebt, bei dem fast alle der gespielten Stücke (hauptsächlich Neukompositionen)
einen christlichen oder religiösen Hintergrund hatten. Ich denke, dass
einer von mehreren Gründen dafür ist, dass jeder Komponist an der
HfMT eine umfassende Ausbildung an mindestens einem klassischen Instrument vorweisen
muss. Bei dieser Ausbildung spielen Komponisten wie Bach oder Mozart, die viele
religiös motivierte Stücke geschrieben haben, noch immer eine zentrale
Rolle.
KUNST UND FORSCHUNG IN MEINEN ARBEITEN
Im Unterschied zu Lenger habe ich mich dem Thema "Kunst und Wissen"
nicht von der theoretischen Seite genähert, sondern von der praktischen:
Ich habe mich in meiner künstlerischen Arbeit unter anderem mit den paradigmatischen
Setzungen von Kunst und wissenschaftlicher Forschung beschäftigt. Angeregt
wurde ich dazu durch mein Studium an verschiedenen Universitäten und Fachbereichen.
Ich habe künstlerische Arbeitsweisen in Forschungseinrichtungen getragen
oder Bilder, die als Teil von wissenschaftlicher Forschung entstanden sind,
in einem Kunstkontext gestellt.
Paradigmenwechsel
Eine künstlerische Arbeit, in der ich die Paradigmen von Wissenschaft
und Kunst thematisiere, ist die Ausstellung „gesammelte Bilder (bfh)“.
Die Ausstellung fand 2002 in der HfbK im Ausstellungsraum von „Transmedien“
in der Averhoffstrasse statt. Für diese Ausstellung habe ich Bilder, die
an der „Bundesforschungsanstalt für Forst- und Holzwirtschaft“
(BFH) im Rahmen von Forschungsarbeiten entstanden sind, gesammelt, sortiert
und in der Kunsthochschule ausgestellt.
Dieselben Bilder sind mit einem unterschiedlichen paradigmatischen Hintergrund
einmal Teil der wissenschaftlichen Forschung und einmal der Kunst. Die einzige
Veränderung, die ich an den Bildern vorgenommen habe, ist den Zusammenhang,
in dem sie präsentiert werden, zu ändern. Durch diese paradigmatische
Verschiebung findet eine grundsätzliche andere Leseweise des Bildmaterials
statt. Im wissenschaftlichen Zusammenhang dienen die Fotos zur objektiven Veranschaulichung
von Forschungsergebnissen, im Kunstraum werden Farben, Formen und Bildqualitäten
wichtig, die vorher keine Rolle gespielt haben. Durch meine Zusammenstellungen
von Bildern werden formale und inhaltliche Beziehungen sichtbar, die vorher
keine Bedeutung hatten.
Abb. 1, 2 Einzelbild aus „gesammelte Bilder (bfh)“, unbekannter Fotograf
Abb. 3, 4 die Ausstellungssituation, Fotos Cornelia Geissler
Kunst im Forschungslabor
Umgekehrt habe ich künstlerische Forschungs- und Vorgehensweisen in die
Bundesforschungsanstalt für Forst- und Holzwirtschaft (BFH) getragen, indem
ich in den Forschungslabors zum Beispiele Formen aus Spänen gelegt habe
und Projektionen mit Dias vorgenommen habe. Aus Fotos von diesen Installationen
ist eine Ausstellung der BFH entstanden.
Abb. 5, 6 Form aus Spänen in der BFH, Cornelia Geissler
Die Formen aus Spänen habe ich in den Räumen der Holzphysik gelegt.
Dort werden unter anderem Spanplatten entwickelt und zum Beispiel ihre Festigkeits-
oder Oberflächeneigenschaften untersucht. Die großen Späne,
die ich für die Formen der Abbildungen 5 und 6 verwendet habe, dienen der
Herstellung von OSB- Spanplatten.
Abb. 7, 8 Projektionen in der BFH, Cornelia Geissler
Für die Projektionen der Abbildungen 7 und 8, habe ich Dias von Holz-Zellen
verwendet, die in Forschungsprojekten der BFH entstanden sind. Um diese Dias
herzustellen, wird Holz mit speziellen Messern sehr dünn geschnitten. Die
Schnitte werden mit Chemikalien eingefärbt und mikroskopiert. Auf das Mikroskop
wird ein Fotoapparat aufgesetzt, mit dem die Dias hergestellt werden. Diese
Dias habe ich auf eine Holztrocknungsanlage in den Forschungslaboren der Holzphysik
projiziert und von diesen Projektionen Fotos angefertigt.
Abb. 9, 10 Kunst-Experimente im Forschungslabor, Cornelia Geissler
Die beiden Abbildungen 9 und 10 zeigen kleine Veränderungen, die ich in
den Laboren des Instituts für Holzphysik mit dort vorgefundenen Gegenständen
durchgeführt habe. In Abbildung 9 habe ich einen blauen Plastikschlauch
um die Metallschiene über einem Laborarbeitsplatz gelegt. In Abbildung
10 liegt ein runder Spiegel auf einem Arbeitstisch. Im Spiegelbild ist ein Gerät
zum Messen der Zugfestigkeit von Holz- und Holzwerkstoffproben zu sehen. Das
Foto fängt meinen künstlerischen Blick auf die Situation ein. Ein
Spiegel, der im Labor auf einem Tisch liegt, würde von einem Menschen,
der dort arbeitet, nicht als Kunst wahrgenommen werden, sondern als unaufgeräumter
Spiegel, der normalerweise über dem Waschbecken des Labors hängen
sollte. Indem ich dieses Fotos später im Institut für Holzphysik ausgestellt
habe, gebe ich den dort arbeitenden Menschen die Möglichkeit, ihre Arbeitsumgebung
in neuen Zusammenhängen zu sehen. Wenn bei den Betrachtern die dazu notwendige
Offenheit vorhanden ist, kann dies zu neuem Wissen über die Möglichkeiten
ihrer Räume und Arbeitsmittel führen.
„eingraben“
Für das Projekt „eingraben“ habe ich Computerschrott halb
in den Rasen des Fachbereichs Informatik in Hamburg Stellingen (Informatikum)
eingelassen. Das Projekt war über eine Wachstumsperiode angelegt. Es begann
im März und endete im November. Die Computer, Bildschirme und Tastaturen
waren in drei Gruppen angeordnet. Da der Rasen nur um diese Gruppen herum Rasen
gemäht wurde, wuchsen die Gruppen ein und es bildeten sich drei Inseln
in der gemähten Rasenfläche.
Abb. 11, 12 die Installation „eingraben“ im Informatikum im März und Oktober,
Cornelia Geissler
Auch bei „eingraben“ ist der paradigmatische Hintergrund ein wesentlicher
Bestandteil der Arbeit. Erst durch die Situiertheit der Installation auf dem
Gelände des Fachbereichs Informatik, bekommt die Installation ihre besondere
Brisanz. Dieselbe Installation im Rasen vor der HfbK wäre bei weitem nicht
so interessant. Für alle, die im Informatikum arbeiten oder studieren spielen
Computer eine zentrale Rolle. Bei einem so intensiven Umgang entwickeln viele
Menschen ein Verhältnis zu Computern, das menschlichen Beziehungen ähnelt.
Als Folge dieses Verhältnisses muss der Kommentar im Gästebuch zum
Ausstellungsprojekt gesehen werden, in dem es heißt, „Das ist ja,
als wenn man seine eigenen Kinder vergräbt.“ Informatiker erwarten
nicht, auf ihrem Gelände mit zeitgenössischer Kunst konfrontiert zu
werden. Während an der HfbK kaum noch ein Kunst-Projekt schocken kann,
war das im Informatikum tatsächlich möglich, wie aus den zum Teil
sehr starken Reaktionen auf das Projekt zu schließen ist. Es gibt nur
wenige Studierende und Professoren an der HfbK, die so intensiv mit Computern
arbeiten, wie das am Informatikum der Fall ist. Ein Verständnis für
das Verhältnis, das Menschen, die viel mit Computern arbeiten, zu diesen
Geräten entwickeln können, ist deshalb bei Studierenden und Professoren
an der HfbK nur zum Teil vorhanden.
INTERVIEW MIT S. MAHARAJ: „KUNST IST EINE FORM VON WISSEN“
Von einer weiteren Seite wird das Thema "Kunst und Wissen" in einem
Interview beleuchtet, das Amine Haase mit dem Co-Kurator Sarat Maharaj am Tag
der Eröffnung der Dokumenta 11 in Kassel geführt hat (Maharaj 2002).
Sarat Maharaj ist Professor für Kunstgeschichte und -theorie in London,
Maastricht und Berlin. 2002 war er einer der sechs Co-Kuratoren der Dokumenta
11 in Kassel. Anlässlich der Eröffnung der Dokumenta hat er ein Interview
(Maharaj 2002) gegeben, indem es inhaltlich um seine These, dass Kunst eine
Form von Wissen darstellt, geht. Das Interview wurde im Kunstforum zur Dokumenta
11 unter dem Titel „Fragen an die kartesianische Logik“ veröffentlicht.
Als Kartesianismus wird die Lehre der Anhänger von Descartes, eines französischen
Philosophen des 17. Jahrhunderts, bezeichnet. Diese Lehre ist durch die Selbstgewissheit
des Bewusstseins („cogito ergo sum“ - „ich denke, also bin
ich“), Leib-Seele-Dualismus und mathematischen Rationalismus gekennzeichnet.
Die Natur wird als Mechanismus verstanden, in dem sich alle Erscheinungen der
körperlichen Welt, auf gesetzmäßig ablaufende Bewegungen zurückführen
lassen (Duden 1982, Brockhaus 1958). Der Titel bezieht sich auf das in Fragestellen
dieses mechanistischen Weltbildes durch Wissen, das durch Kunst produziert wird.
Weitere Erläuterungen dazu finden sich im Abschnitt „Wissenssysteme“.
Ich fasse hier die Inhalte des Interviews zusammen, die sich auf das Thema
„Kunst als eine Form von Wissen“ beziehen:
Kunst als Wissensproduzentin
Kunst ist eine Form von Wissen. Es handelt sich nicht um einen Wissenstransfer,
sondern unterscheidet sich vom Begriff der Wissensübertragung. Kunst produziert
Wissen. Sie schafft völlig neuartige Erfahrungen, neue Vorstellungen und
neue Arten von Subjektivität. Sie kann Momente von Intensität und
Subjektivität einfangen, die nicht in Sprache gemessen und systematisiert
werden können. Es ist ein Wissen, das durch das Netz der normalen Wissenssysteme
schlüpft und häufig als so unwichtig, trivial, zweitrangig oder winzig
angesehen wird, das man keine Notiz davon nimmt.
Bei der künstlerischen Wissensproduktion geht es um Kreativität, die
sich mit dem befasst, was der Gedankengang nicht denkt, womit das normale Denken
nicht umzugehen weiß, dem es nicht gewachsen ist und was es als andersartig
und ihm fremd ausschließt. Die künstlerische Wissensproduktion ist
dadurch gekennzeichnet, dass sie bereit ist, das Fremde, das Andere oder Unbekannte
kennen zu lernen.
Es gibt verschiedene Ebenen, auf denen sich diese Wissensproduktion abspielt.
Es geht nicht nur um das Denken, sondern auch um das Andere im materiellen,
physischen Sinn. Beispiel hierfür sind die Anderen in unserer Gesellschaft
und Kultur, die wir als Ausländer, Flüchtling oder Asylbewerber bezeichnen.
Im Allgemeinen wird die Begegnung mit ihnen als Liebe oder Hass des Anderen
(=Xenophilie oder Xenophobie) erfahren.
Wissenssysteme
Es gibt zwei Systeme der Wissensproduktion, das akademische, systematische
und das System, das mit dem Zufallselement der künstlerischen Wissensproduktion
arbeitet. Dieses bezeichnet Maharaj als Produktion von „Nicht-Wissen“,
weil Kunst dazu tendiert zu zeigen, was die offiziellen Wissenssysteme ausschließen,
was sie auslassen, das Unbekannte der Gedankenwelt, das Andere der Gedankenwelt.
Kunst zertrümmert, zerkleinert, zermalt, „schreddert“ die systematisierten
Denkweisen über unsere Welt und schafft alternative Methoden, die Welt
zu messen, zu erkennen und zu quantifizieren. Diese Methoden befinden sich außerhalb
der strengen kartesianischen Denkweise, die wir ererbt haben. Kunst und die
offiziellen Wissenssysteme sind lange Zeit nicht als gleichwertig nebeneinander
stehend betrachtet worden. Die offiziellen Wissenssysteme haben die Künste
ausgeschlossen und nicht als Wissen produzierend angesehen, sondern als etwas,
das sich mit präkognitiven Elementen beschäftigt.
Der Umgang mit dem Modell
Die Wissensproduktion ist kein theoretisches Modell nach dem Künstler
arbeiten. Künstler haben so gearbeitet und Maharaj verwendet dieses Modell,
um der Arbeitsweise von Künstlern zu derselben Wertigkeit zu verhelfen,
die die anderen systematischen Wissenssysteme haben.
Maharaj will mit seiner Analyse seinen Eindruck von Kunsterfahrung und zeitgenössischem
Kunstschaffen ergründen. Personen, die die Werke betrachten, werden das
nicht so abstrakt und systematisch tun wie er. Er befindet sich damit in einem
anderen Denkraum, der nicht höher ist als andere Betrachtungsweisen, sondern
neben ihnen steht. Die Besucher der Ausstellung erfahren Kunstwerke als Kunstwerke.
Wie die Einzelperson sie verstehen, ist von ihrem Vorwissen und Engagement abhängig.
Jede Person baut sich ein eigenes Bedeutungsuniversum auf, so dass sich für
sie ein Sinn ergibt. Wie die Kunst verstanden und aufgenommen wird, sollte man
offen lassen.
Beispiele und Interpretationen zu Maharajs Interview
Maharaj gibt in seinem Interview verschiedene Beispiele, um seine Thesen zu
verdeutlichen. Er geht zum Beispiel auf Zarina Bhimji ein, die 1963 in Uganda
geboren wurde und heute in London lebt. Ihre Familie wurde vor dreißig
Jahren aus Uganda vertrieben. In ihren Fotos und Filmen geht sie der Erfahrung
von Unterdrückung und Vertreibung nach. Sie zeigt Räume ohne Menschen,
die Spuren von unmenschlichem Geschehen aufweisen. Als Beispiel führt Maharaj
ihren Film „Out of the Blue“ an. Eine brennende Landschaft, die
auf Vertreibung, Exil, Emigration und Verletzung verweist, ist durch ein tiefes,
unangenehmes Geräusch unterlegt. Das Traumata wird nicht in Alltagssprache
ausgedrückt, sondern subjektiv erfahr- und erlebbar gemacht.
Abb. 13, 14 Standbilder aus “Out of the Blue”, Zarina Bhimji
Als eine auf Kant spezialisierte Künstlerin bewegt sich Adrien Piper zwischen
den Wissenssystemen. In ihrer künstlerischen Arbeit nimmt sie Bezug auf
den indischen Philosophen Shankra aus dem achten oder neunten Jahrhundert, dessen
Lehren von der klassischen Aufklärung als Mystizismus abgetan wird. Für
ihre Arbeit „The Color Wheel Series“ von 2000 verwendet sie sehr
unterschiedliche Bezüge auf verschiedene Wissenssysteme, um in der Kombination
dieser Elemente zu ihrer eigenen Position zu gelangen. Sie schafft ein rätselhaftes,
undurchsichtiges Wissen, das im Gegensatz zum Rationalismus steht. Daher ist
es so schwierig, Aussagen zu ihren Arbeiten zu formulieren, obwohl sie, wie
die Abbildungen 15 und 16 zeigen, viele Assoziationen nahe legen.
Abb. 15, 16 Ausschnitt aus “The Color Wheel Series”, Adrian Piper
Durch ein Kunstwerk schafft ein Künstler „Wissen“. Bei der
Kunstbetrachtung findet kein einfacher Wissenstransfer statt, sondern durch
das Kunstwerk können beim Betrachter Prozesse ausgelöst werden, die
neues Wissen zur Folge haben können.
Maharaj führt aus, dass die künstlerische Wissensproduktion eine
Bereitschaft sei, das Fremde, Andere oder Unbekannte kennen zulernen. Es versteht
dies auch im materiellen und physischen Sinn, das heißt es geht um das
Andere in unserer Gesellschaft und in unserer Kultur, um Ausländer, Flüchtlinge
und Asylbewerber. Maharaj bezieht sich damit auf eine politische Ebene.
Die Dokumenta 11 war vor allem durch das Zusammentragen von multikulturellen
künstlerischen Standpunkten geprägt. Mit Okawi Enwezor war das das
erste Mal ein Nicht- Europäer künstlerischer Leiter der Ausstellung.
Auch die sechs Co-Kuratoren sind wie Mararaj kulturell und von ihrer Herkunft
vielfach verankert. Im Vorfeld dieser Dokumenta fanden auf verschiedenen Erdteilen
„Plattformen“ statt, in denen über politische, ökonomische,
gesellschaftliche und urbane Bedingungen diskutiert wurde, unter denen auch
Kunst entsteht (Haase 2002). Damit bezieht sich Maharaj mit seiner Aussage,
dass es bei der Wissensproduktion durch Kunst auch um Ausländer, Flüchtlinge
und Asylbewerber geht, auf die allgemeine Linie, nach der die Dokumenta 11 kuratiert
wurde.
Allerdings finde ich, dass Maharaj eine starke Einschränkung seines zunächst
offenen Ausgangspunktes „Kunst als Produzent von Wissen“ vornimmt.
Er klammert andere Leseweisen, zum Beispiel Kunst, die sich mit formalen Standpunkten,
anderen Themen, bestimmten Materialien und ähnlichem beschäftigt aus.
Auch eine abstrakte Form von Henry Moore oder Richard Long ist Kunst, ohne dass
sie sich mit Ausländerfeindlichkeit beschäftigt. Allerdings denke
ich, dass man seine Kernaussage, dass Kunst Wissen produziert auch auf nicht
politisch motivierte Kunstwerke beziehen kann. Auch eine Skulptur, die eine
abstrakte Form darstellt, kann beim Betrachter Prozesse auslösen, die zu
neuem Wissen führen.
KLEE: DIE WURZELN DER DINGE
Einen weitere Auffassung zum Thema „Kunst und Wissen“ finden wir
bei Paul Klee (1879- 1940). Klee war mit den Malern des „Blauen Reiters“
Wassily Kandinsky und Franz Marc befreundet und wurde durch Henri Rousseau und
den Kubismus beeinflusst. Ab 1921 wirkte er als Meister am Bauhaus in Weimar
und Dessau. Trotz starker Abstraktion knüpfen seine Bilder fast immer an
Gegenständliches an und machen traumhafte Vorgänge sichtbar. Seine
Kunst ist dem Surrealismus verwandt, unterscheidet sich von diesem jedoch durch
den unmittelbaren Ausdruck, der an die Naivität von Kinderzeichnungen erinnert.
In theoretischen Schriften und seinen Tagebüchern hat er sich zu seiner
Kunst geäußert (Read 1959).
Abb. 17
Die abgebildete Seite (Abb. 17) stammt aus einem Buch der Reihe „Kunst
für Kinder“, das sich mit der Kunst Paul Klees auseinandersetzt (Raboff
1969). Mit mehren Zitaten wird Klees Kunstverständnis beleuchtet. Im Zusammenhang
„Kunst und Wissen“ finde ich seine Aussage, was wir durch Kunst
lernen können, interessant. Lernen führt zu Wissen. Klee macht also
auch eine Aussage darüber, welche Art von Wissen wir durch Kunst erhalten
können.
Kunst will nicht die Wirklichkeit abbilden, also duplizieren, sondern die verschiedenen
Ebenen der Wirklichkeit sichtbar zu machen (Klee: „Die Kunst bringt das
Sichtbare nicht wieder hervor. Sie macht es sichtbar.“). Als Betrachter
von Klees Kunstwerken sieht man mehr als das Äußere: „Meine
Gesichter sind wahrhaftiger als das Leben.“ Er sagt: „So lernen
wir, nicht nur auf die Oberfläche zu schauen, sondern tiefer, um an die
Wurzeln der Dinge heran zu kommen“. Das bedeutet, die Betrachtung von
Kunst kann zum Entwickeln der Fähigkeit führen, mehr zu sehen, als
zunächst erkennbar ist. Die Wahrnehmung wird geschärft und erweitert.
Ich finde es spannend, dass de Roeck (1985) mit demselben Bild, das auch Klee
verwendet („die Wurzel der Dinge“), seine Vorstellung von Mystik
beschreibt: „Mystik ist für mich, aufmerksam sein, nicht für
die weit entfernten Warums, sondern für die lebendigen Wurzeln von Dingen
und Menschen ganz in der Nähe.“ Auch bei Mystik geht es um eine Schärfung
der Wahrnehmung, die de Roeck mit dem Aufmerksamsein für die Wurzeln der
Dinge umschreibt. Man könnte daraus schließen, dass in beiden Fällen
um das Entwickeln ähnlicher Fähigkeiten geht.
Als Künstler geht Paul Klee vom praktischen Kunstschaffen aus, deshalb
liegt es nahe seine Aussagen zunächst auf seine eigenen Arbeiten zu beziehen.
Aber ich finde , dass es möglich ist, seine Aussage: „So lernen wir,
nicht nur auf die Oberfläche zu schauen, sondern tiefer, um an die Wurzeln
der Dinger heran zu kommen“ auch allgemeiner zu verstehen ist. Sie lässt
sich auch auf andere Kunstwerke beziehen, die zunächst nicht so esoterisch
wirken. Zum Beispiel könnte man bei Kunstwerken von Andy Warhol oder Stanley
Brown sagen, dass sie den Betrachter lehren können, tiefer zu schauen,
um ein Bewusstsein für andere Leseweisen der Wirklichkeit zu entwickeln.
Ich denke, dass man die Arbeit von Klee als Teil der "paradigmatischen
Revolutionen des 20. Jahrhunderts" im Sinne von Lenger interpretieren kann.
ZUSAMMENFASSUNG DER POSITIONEN
Die im Vorangegangenen beschriebenen Positionen ergänzen sich. Obwohl
die Ausgangpunkte jeweils verschieden sind, geht es im Kern aller Positionen
um die Verbindung von Kunst und Wissen. Lenger ist ein Theoretiker, der sich
dem Thema "Kunst und Wissen" medienphilosophisch und kunstgeschichtlich
nähert. In seinen Aussagen bleibt er eher abstrakt. Mit seinen Beispielen
beschreibt er einen großen Bogen über die europäische Kunstgeschichte.
Er gibt aber keine konkreten Beispiele für Künstler oder Kunstwerke,
die das jetzige Kunstgeschehen betreffen. Er zeigt aber, unter welchen Bedingungen
in einzelnen Epochen "Wissen" produziert wurde. Meine eigenen vorgestellten
Kunstwerke stellen eine bildnerische Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen
und künstlerischen Forschungsräumen dar. Ihr Ausgangpunkt ist die
praktische Erfahrung mit wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeitsweisen.
Das heißt, ich habe mich in die Räume begeben, in denen "Wissen"
entsteht, und habe versucht,
Wissenschaftler zur Reflexion über ihre Tätigkeit anzuregen. Maharaj
bezieht sich in seiner Rolle als Kurator der letzten Dokumenta vor allem auf
die zeitgenössische Kunstpraxis. Er verdeutlicht seine Aussagen an konkreten
Kunstwerken, die zum Zeitpunkt des Interviews 2002 zum aktuellen Kunstgeschehen
gehören. Er weist damit auf eine aktuelle Stelle hin, an der heute neues
"Wissen" sichtbar wird. Paul Klee kommt aus der Praxis des Kunstschaffens
und des Kunstlehrens. Seinen allgemeinen Aussagen darüber, was man durch
Kunst lernen kann, liegt die eigene Erfahrung zu Grunde. In seiner zehnjährigen
Tätigkeit als Lehrer am Bauhaus hat er für seine Schüler die
Prinzipien seiner Kunst formuliert (Read 1959) und mehrere theoretische Schriften
verfasst. Er hat damit für seine Zeit deutlich gemacht, wie Kunst Wissen
schafft.
ZUM SCHLUSS: DURCH KUNST LERNEN
Meiner Meinung nach gibt es bestimmte Voraussetzungen dafür, dass man
durch Kunstbetrachtung lernen kann. Das Kunstwerk muss den Betrachter berühren
können. Dafür muss eine grundsätzliche Offenheit da sein. Vorurteile
gegenüber zeitgenössischer Kunst, zuviel Wissen (zum Beispiel, was
die Herstellung des Kunstwerks gekostet hat), Hektik (noch den ganzen Rest der
Ausstellung sehen müssen) oder ähnliches können diese Offenheit
einschränken. In dem Kunstwerk, in Thema, Form oder Material, muss etwas
vorhanden sein, das im Betrachter zu einem Dialog mit dem Kunstwerk führt,
das dafür sorgt, dass zwischen Kunstwerk und Betrachter eine innere Spannung
entsteht.
Was den Betrachter anspricht ist nicht nur vom Kunstwerk abhängig, sondern
auch von der Persönlichkeit des Betrachters und seiner/ihrer Lebenserfahrung
und -situation.
Erst wenn im Betrachter durch das Kunstwerk ein Prozess, den ich hier mit „Berührung“,
Dialog“ und „innere Spannung“ umschreibe zustande kommt, kann
das Kunstwerk beim Betrachter zu neuem Wissen führen.
Ich habe den Eindruck, mir sowohl bei der Betrachtung von Kunstwerken als auch
in der eigenen künstlerischen Tätigkeit sehr viel Wissen angeeignet
zu haben. Die Inhalte dieses Wissens sind vielfältig und nicht alle leicht
in Worte zu fassen.
Es ist nicht möglich, alles aufzuzählen, was ich in meiner langen
Kunstpraxis gelernt habe. Im Folgenden ein kleiner Ausschnitt ohne Anspruch
auf Vollständigkeit: Viel gelernt habe ich im Bereich der Techniken und
Fertigkeiten zum Beispiel: Zeichnen, Malen, Fotografieren, Programmieren usw..
Außerdem in dem etwas schwerer zu fassenden Bereich, in dem es um Proportionen,
Gleichgewichte, Stimmigkeiten und bewusst eingesetzte Unstimmigkeiten usw. geht.
Ich habe viel über mich selbst gelernt, indem ich ohne nachzudenken produziert
habe und dann die Ergebnisse und alle Zwischenstadien immer wieder betrachtet
und reflektiert habe. So habe ich mich zum Beispiel in Serien von gemalten Selbstportais
oder Mündern, mit verschiedenen Fassetten meiner Person auseinandergesetzt.
Im Bereich Ausstellungen, habe ich viel bei der Organisation der eigenen Einzel-
und Gruppenausstellungen gelernt. Dazu gehört auch Wissen über Galerien
und den Kunstbetrieb. Gelernt habe ich auch durch Reaktionen des Publikums und
das Schreiben von Texten für Ausstellungskataloge oder Dokumentationen.
Dies alles zusammengenommen zeigt, wie umfangreich das Wissen (in einem sehr
umfassenden Sinn) ist, das „Kunst“ beinhaltet.
LITERATUR
BROCKHAUS: Der Neue Brockhaus, Allbuch in fünf Bänden und einem Atlas,
F.A Brockhaus Wiesbaden 1958
DUDEN: Fremdwörterbuch, Dudenverlag Mannheim, Wien, Zürich 1982
HAASE, A.: Keine Kunst ohne Vergangenheit, Kunstforum International, Die aktuelle
Zeitschrift für alle Bereiche der Bildenden Kunst, Thema der Ausgabe: Documenta
11, Dieter Bechloff (Hrsg.), Bd.11 August - Oktober 2002
LENGER, J.: Kunst, Wissen: Forschung, Vortrag an der Hochschule für Bildende
Künste
Hamburg auf dem Doktoranden-Kolloquiums 9.12.2002, http://www.hjlenger.de, Texte
zur Hochschulpolitik 2002
Der Text befindet sich als pdf auf der DVD zur Diplomarbeit.
MAHARAJ, S.: Fragen an die kartesianische Logik, Kunstforum International,
Die aktuelle Zeitschrift für alle Bereiche der Bildenden Kunst, Thema der
Ausgabe: Documenta 11, Dieter Bechloff (Hrsg.), Bd.11 August - Oktober 2002
Der Text befindet sich auf der DVD zur Diplomarbeit.
RABOFF, E.: Paul Klee, Kunst für Kinder, Gemini-Smith Buch, Hrsg. Weber,
Genf 1969
READ, M.: Geschichte der modernen Malerei, Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur,
München, Zürich 1959, S. 172 ff
de ROECK, B.-P.: Gras unter meinen Füssen, Eine ungewöhnliche Einführung
in die Gestalttherapie, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1985, 1990
ABBILDUNGEN
Abb. 1, 2 Einzelbilder aus „gesammelte Bilder (bfh)“, unbekannter
Fotograf
Abb. 3, 4 die Ausstellungssituation „gesammelte Bilder (bfh)“,
Foto Cornelia Geissler
Abb. 5, 6 Form aus Spänen in der BFH, Cornelia Geissler
Abb. 7, 8 Projektionen in der BFH, Cornelia Geissler
Abb. 9, 10 Kunst-Experimente im Forschungslabor, Cornelia Geissler
Abb. 11 die Installation „eingraben“ im Informatikum im März,
Foto und Installation Cornelia Geissler
Abb. 12 die Installation „eingraben“ im Informatikum im November,
Foto und Installation Cornelia Geissler
Abb. 13, 14 Zarina Bhimji, Still aus “Out of Blue”, 16mm-Film übertragen
auf DVD, Farbe, Ton, 28 min, Documenta 11, Kassel 2002
http://www.zarinabhimji.com/ Nov. 05
Abb. 15 Adrian Piper, The Color Wheel Series, First Adhyasa: Annomayakosha,
Fotografischer Laserdruck auf Schaumpapier mit Laminierung, 142 x 91 cm, 2000
Foto von der Dokumenta 11 aus Kunstforum International, Die aktuelle Zeitschrift
für alle Bereiche der Bildenden Kunst, Thema der Ausgabe: Documenta 11,
Dieter Bechloff (Hrsg.), Bd.11 August - Oktober 2002, S. 159
Abb. 16 Adrian Piper, The Color Wheel Series, First Adhyasa: Annomayakosha
# 27, Fotografischer Laserdruck auf Schaumpapier mit Laminierung, 142 x 91 cm,
2000 http://www.adrianpiper.com Nov. 05
Abb. 17 Raboff, Paul Klee, Kunst für Kinder, Gemini-Smith Buch, Hrsg.
Weber, Genf 1969
|